2010 erschienen: Band 7
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Piovani, Pietro:
Ausgewählte Werke in deutscher Übersetzung / Pietro Piovani. – Norderstedt/Biel-Bienne:
Books on Demand/Schweizerischer Wissenschafts- und Universitätsverlag
NE: Hebeisen, Michael Walter [Hrsg.]: Piovani, Pietro: [Sammlung]
Bd. 7: Grundlinien der Rechtsphilosophie /
aus dem Italienischen übersetzt und
hrsg. von Michael Walter Hebeisen,
mit einer Einführung von Michael Walter Hebeisen. – 2011
ISBN 978-3-8391-3416-0
408 S., Hc., 138.—CHF, 89.00 EURO
Titel der Originalausgabe:
Linee di una filosofia del diritto. CEDAM, Padova, 3. A. 1968 (1. A. 1958; 2. A. 1964).
In den „Grundlinien der Rechtsphilosophie“ aus dem Jahr 1958 [...] zeigt sich im Recht eine Welt, in der die Moral geschichtlich wird, in der die Norm sich in ihrer Effektivität realisiert. Die historische Dimension ist unweigerlich vorgegeben durch das Handeln, durch die Handlungen des Individuums, das – der eigenen Gegebenheit eingedenk – erkennt und will, unter der Voraussetzung, aus dem unmittelbaren Wollen, aus der Unmittelbarkeit des denkenden Ichs, auszubrechen. Das Ich bleibt nicht passiv gegenüber dem, was es an den eigenen Wurzeln gefunden hat, sei es dass es das Leben verweigert und so die Fähigkeit unter Beweis stellt, das Faktum abzuweisen, dass es nicht vorgegeben ist, sei es dass es, denkend und handelnd, das Leben annimmt, und so die Gefahr läuft, sich zu weigern, dass sein Ich vom Universalismus des Denkens vereinnahmt wird, dass sich sein Handeln nicht einfügt in die Folge der Handlungen, denen sich seine Persönlichkeit anvertrauen sollte, und es so zulässt, sich ausserhalb der originären Vorgegebenheit auszudehnen. In der Annahme des Lebens liegt also nicht eine solche (unmögliche) Verweigerung, sondern die (notwendige) Befreiung der Objektivität des Ichs, das sich so will, wie es einmal ist und das willentlich ein Wollen annimmt, das nicht das seine ist, indem es die eingebildete oder erhoffte Vereinzelung unwiderruflich verwirft. „Wenn ich nicht Subjekt in subjektivistischer Reinkultur sein kann, so darf ich es in der historischen Welt sein.“ Auf diese Weise macht das Subjekt eine andere Entdeckung, die einen wieteren Schritt auf dem Weg zu einer vollständigen Selbsterkenntnis darstellt. In der historischen Welt ist das Ich nicht allein. Das grundlegende Anderssein verwirklicht sich auf seine Weise in den Objektivationen des Lebens, die das Subjekt als Projektionen seines Lebens und des Lebens anderer ihm ähnlichen Individuen entdeckt, in der unvergleichlichen Diversität ihrer Individualität, sowie als Grundlage und Entfaltung der eigenen Humanität. „Ich muss mich so entdecken, wie ich mich mit dem anderen, mit den anderen zusammen erkenne.“ Ich muss „den anderen, der in mir ist, die anderen, die mit mir sind“ anerkennen.
Das Anderssein muss also sein und es eröffnet demnach dem Subjekt die Aussicht auf das Gebiet der Ethik, wo die vorgegebene originäre Objektivität sich nicht als Notwendigkeit, sondern als Freiheit substantialisiert. Diese Freiheit – ob sie nun verneint oder angenommen wird – liegt vor allem in der paradoxalen Richtschnur, wo sie nicht als Objekt von möglichen Verhandlungen zur Verfügung steht, weil die Ausprägung des Seins als Koexistenz die Handlungsfreiheit ohne Grenzen absichert, und auch nicht diejenige, mit der individuellen Existenz unvereinbare Handlungen zu vollführen. Das Handeln des Subjekts, so wie es sich kennenlernt, ist koexistenziell (ursprünglich objektiv, das bedeutet tendenziell alteristisch) und erneuert für immer die Befreiung von einer vorgegebenen Notwendigkeit, die aber für die Handlungsfreiheit nicht erforderlich ist, immer dazu in der Lage, respektlos gegenüber sich und die anderen zu sein. Die Möglichkeit der Verletzung ist immer eröffnet, auch wenn sie unlogisch ist; noch einmal vergegenwärtigt das Recht, die Normativität des Rechts, seine entscheidende Stellung, indem es – wie nach Giuseppe Capograssi – die Rettung der Handelns gegenüber der verletzenden Handlung leistet. Folglich nicht die Verneinung der Freiheit, sondern eine Verteidigung der Rationalität vor der Unvernunft, vor der unlogischen und unmoralischen Verletzung, die ein Rest jedes Singularismus darstellt, welcher ein Wahrer aller Freiheiten zu sein glaubt, nur weil er die Möglichkeit zulässt, die anderen zu verletzen, ohne sich des Widerspruchs seiner Grundannahmen bewusst zu werden, weil die Verletzung des anderen ja im Zusammenleben mit den anderen einer Verletzung seiner selbst gleichkommt. Und doch, die Folgewidrigkeit der Verletzung zu erkennen bedeutet nicht, sie zu verleugnen. Im Gegenteil!
Fulvio Tessitore
In Neapel am 17. Oktober 1922 geboren, schloss Pietro Piovani seine Studien 1947 bei Giuseppe Capograssi ab. Zwischen 1953 und 1963 unterrichtete er an den Universitäten von Triest, Florenz und Rom, bevor er auf den Lehrstuhl für Moralphilosophie an der Universität von Neapel wechselte, den er bis zu seinem Tod 1980 innehatte. Er ist Autor von ca. 20 Werken auf den Gebieten der Rechts-, Moral- und Sozialphilosophie, sowie der süditalienischen Geistesgeschichte. Er war Mitglied der wichtigsten italienischen Akademien, darunter der Accademia dei Lincei in Rom und der Accademia Pontaniana in Neapel. Sein Vermächtnis wird in Neapel von zahlreichen Schülern gepflegt und sein Denken wird in Italien von vielen Wissenschaftern aus allen Gebieten weitergeführt. Aus Anlass seines 20. Todestages fand im Jahr 2000 in Neapel eine grosse Gedenktagung statt, die sein Fortwirken dokumentiert.