2010 erschienen: Band 1

Capograssi-Edition - Flyer Bd. 1
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Titelei, Inhaltsverzeichnis, Vorwort, Einführung
Esperienza comune - Titel, Vorwort, Einf
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Capograssi, Giuseppe:

Ausgewählte Werke in deutscher Übersetzung / Giuseppe Capograssi. –Biel/Bienne:

Schweizerischer Wissenschafts- und Universitätsverlag

NE: Hebeisen, Michael Walter [Hrsg.]: Capograssi, Giuseppe: [Sammlung]

Bd. 1: Analyse der allgemeinen Erfahrung /

aus dem Italienischen übersetzt und
hrsg. von Michael Walter Hebeisen. – 2010

ISBN 978-3-8391-1821-4

352 S., Hc. m. SU, 118.- (78.00)

 

Titel der Originalausgabe:

Analisi dell’esperienza comune, in: Opere, Bd. 2, S. 1-207. A. Giuffrè, Milano 1959 [erstmals Roma: Athenaeum, Società editrice romana, 1930].

 

"Es ist unbestreitbar, dass die Philosophie keine anderen Gegebenheiten behandelt als diejenigen des Lebens, und so ist es ihre vornehme Aufgabe, das Leben auszulegen, dem Leben ein deutliches Bewusstsein seiner selbst zu vermitteln. Wer sich aber dem modernen Denken nähert, besonders dem zeitgenössischen Denken, hat den Eindruck, dass das Leben weit davon entfernt ist, und dass es nicht gelingen mag, den Verbindungspunkt aufzufinden zwischen dem Leben, wie es geführt und geliebt wird, dem Leben, wie es sich im konkreten und wirksamen alltäglichen Bewusstsein äussert, einerseits, und dem Leben oder der Wirklichkeit oder dem Denken, wovon in der philosophischen Forschung die Rede ist, andererseits. Und doch ist die Wahrheit dem Leben nachgebildet, sodass derjenige, der sich dem philosophischen Nachdenken nähert, stillschweigend dessen Konklusionen mit denjenigen Wahrnehmungen, Bedürfnissen, Problemstellungen und Gewissheiten vergleicht, welche er tief in seinem Gemüt, in seiner Seele und in seinem Geist trägt, ohne dass es ihm jedoch gelingt, das beiden gemeinsame Terrain, den beiden gemeinsamen Massstab aufzufinden: sosehr diese philosophisch fundierten Schlussfolgerungen auch vertieft werden, so mag es ihnen doch nicht gelingen, sich bis auf die konkrete Ebene des Lebens hinabzuneigen, und sosehr die Folgerungen aus dem konkreten Leben auch gründlicher untersucht werden möchten, so haben sie dabei dennoch keinen Erfolg, bis hinauf zu den philosophischen Schlüssen als ihren Prinzipien zu gelangen.

Im wesentlichen schein es so zu sein, dass dem philosophischen Nachdenken keine andere Aufgabe zukommt, als eine noch so scharfe und unüberbrückbare Trennungslinie zu ziehen zwischen der Sphäre der Wirklichkeit, die zu philosophischem Bewusstsein gelangt, und dem Kreis der Realität, worin die Menschen leben und ein Bewusstsein davon erlangen, wie sie ihre vitale Erfahrung erleben. Das Besondere ist nun folgendes: man darf behaupten, dass der fortwährende Gegenstand des modernen spekulativen Denken ausgerechnet das Leben ist, und Georg Simmel hat mit allem Grund sagen können, dass der Begriff des Lebens in der modernen spekulativen Philosophie dazu tendiert, eine solchermassen zentrale Stellung innezuhaben, wie sie im früheren philosophischen Denken die Ideen der Substanz, von Gott und der Natur zugekommen war. Und unterdessen kann man sagen, dass das Denken sich nichts anderes mehr vornimmt, als das Leben zu erklären, und dass das moderne spekulative Denken zusehends ausgegangen ist, ausgerechnet dieses Leben herabzuwürdigen, diese einzigartige Leben, das wir experimentell erfahren, dieser einzige Teil des universalen Leben, wenn man so will, den wir erkennen können und über den wir Bescheid wissen, weil wir davon Wissen und Empfindungen erlangen können, und weil wir ihn auf dem Weg über unsere Erfahrung gewissermassen analytisch zu entdecken vermögen. Solches ist auf jede Art und Weise unternommen worden, ausser von seiten der allgemeinen Erfahrung, so wie wenn wir schon von seiten der weiteren Erfahrungen reich genug wären, und wie wenn eine Art von Abscheu gegen das Allgemeine vorherrschen würde."

Giuseppe Capograssi