2012 erschienen: Band 5
Capograssi, Giuseppe:
Ausgewählte Werke in deutscher Übersetzung / Giuseppe Capograssi. –Biel/Bienne:
Schweizerischer Wissenschafts- und Universitätsverlag
NE: Hebeisen, Michael Walter [Hrsg.]: Capograssi, Giuseppe: [Sammlung]
Bd. 5: Das Problem der Rechtswissenschaft /
aus dem Italienischen übersetzt und
hrsg. von Michael Walter Hebeisen. – 2012
ISBN 978-3-8448-1287-9
472 S., Hc. mit SU, CHF 168.-- / 118.00 EURO
Titel der Originalausgaben:
Il problema della scienza del diritto, in: Opere, Bd. 2, S. 377ff. A. Giuffrè, Milano 1959 (erstmals Società editrice del „Foro italiano“, Roma 1937);
Il diritto dopo la catastrofe, a. a. O., Bd. 5, S. 151ff. (erstmals in: Scritti giuridici in onore di Francesco Carnelutti, CEDAM, Padova 1950, Bd. 1, S. 1ff.);
L’ambiguità del diritto contemporaneo, a. a. O., Bd. 5, S. 385ff. (erstmals in: La crisi del diritto, CEDAM, Padova 1953, S. 13ff.).
"Die Rechtswissenschaft steht aber in dieser Welt, und man kann sogar behaupten, dass sie im Mittelpunkt dieser Welt zu liegen kommt. Nimmt sie auch an der umschriebenen Krise teil, und hat sie ihren Anteil an dieser Krise? Nehmen sich die ihre Selbstbetrachtungen und der von ihr behauptete instrumentelle Charakter etwa als ein Widerschein ebendieser Krise aus? Stellen vielleicht diese ihre reflektierenden Überlegungen nur den Anfang eines Verlusts ihrer Gewissheiten und einer Krise ihrer Selbstsicherheit dar? Das sind überaus qualvolle Fragestellungen. Wenn nämlich diese instrumentelle Indienststellung, diese Reduktion auf eine Technik, und wenn dieser nurmehr pragmatische Wert der konzeptuellen Begriffe der Rechtswissenschaft die Auswirkungen der Verdunkelung der Rechtsidee, beziehungsweise deren Übersetzung in die folgerichtige Begrifflichkeit sein sollten, dann würde das bedeuten, dass die Jurisprudenz auch selbt nicht mehr an das Recht glaubt, dass nicht einmal mehr sie weiss, was sie zu ihrem Gegenstand hat, und dass ihr die vitale Bedeutung des Rechts als einer lebendigen Idee und als einem Lebensprinzip abhanden gekommen ist. Und dies wäre dann tatsächlich eine Krise; und man möchte fast sagen, dass dies die eigentliche Vollendung der angebrochenen Krise ausmachen würde, die Krise in ihrer Perfektion; denn wer sollte denn noch sein Ver-trauen in die Rechtswissenschaft setzen und wer sollte ihr noch Glauben schenken, wenn die Rechtswissenschaft selbst am Ende garkeine Gewissheit und garkein Vertrauen mehr in das Recht haben würde? Es wäre, wie wenn die Dichter nicht mehr an ihre Poesie glauben würden, oder die Heiligen nicht mehr an ihre Religion. [...] Aufzuzeigen, dass die Lebenswirklichkeit viel tiefgründiger und rationaler ausfällt, als es den Anschein hat, sowie die innersten Gewissheiten und Wahrheiten, auf denen die unverzichtbare Lebensanstrengung begründet liegt, ans helle Licht der wissenschaftlichen Analyse zu führen und damit ins erkennende Bewusstsein zu tragen, kommt einer eigentlichen Not gleich. Sich der im Leben verborgenen reichen Schätze bewusst zu werden, stellt immer ein erklärtes Ziel dar, und entspricht somit auch dem Ziel der Nachforschungen auf dem Gebiet des Geistes, dieses Erfordernis wird jedoch noch umso dringlicher und unabwendbarer in Zeiten, wo ein praktischer Skeptizismus Gefahr läuft, die lebenswichtigen Bejahungen, worin das Leben begründet ist, mittels einer systematischen Negierung der Praxis zu verheimlichen und zu verdunkeln. Je ärmer sich das geschichtliche Handeln an Geist ausnimmt, desto unverzichtbarer wird es, diesen unverlierbaren und unüberwindlichen Geist zu erforschen, nicht verflüchtigen zu lassen und zu bewahren, diesen Geistreichtum, wie er tief im Innersten der Lebensformen waltet, und der im Handeln auch dann noch immer mitenthalten ist, wenn die Geschichte immerzu gefühlloser zu werden scheint. Und gerade deshalb kommt es darauf an, die Gewissheit zutreffend zu erfassen, und das Mass an konkreter Geistigkeit besser zu verstehen, wie sie die Rechtswissenschaft in sich trägt, die ja Bestand hat, und die immerwährend tätig ist, da sie ja eine der Ausprägungen des Lebens, eine der Lebensformen darstellt. Es wird sich noch zeigen, dass die Rechtswissenschaft, und fallen die geschichtlichen Krisenlagen noch so dringlich aus, auf den tiefliegenden Wahrheitsgehalt der Rechtserfahrung vertraut, dass sie sich nach dieser Richtigkeit ausrichtet, und dass sie alle ihre Bemühungen in den Dienst an dieser Gewissheit stellt. Auf dem Grund ihrer Erwägungen und ihres Fürwahrhaltens liegt eine teifgründige Selbsgewissheit, die von der Rechtswissenschaft mit ihrer praktischen Arbeit behauptet wird, und die sie zwar vielleicht in ihrer Begrifflichkeit nicht mitformuliert, die sie aber mit ihrem Bestehen und mit ihrer Wirkkraft umsomehr unter Beweis stellt. Es kommt wahrhaftig einem Trost gleich, festzustellen und zu Zeugnis davon abzulegen, dass sich die menschlichen Ideen, worauf sich das Leben abstützt, offenbar nicht verflüchtigen, sosehr sie sich auch verdunkeln mögen."
Giuseppe Capograssi