Bd. 1: Zwei Antrittsvorlesungen und Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in Italien und in Europa; Entwurf einer Geschichte der Logik
Spaventa, Bertrando:
Ausgewählte Werke in deutscher Übersetzung / Bertrando Spaventa. – Biel/Bienne:
Schweizerischer Wissenschafts- und Universitätsverlag
NE: Hebeisen, Michael Walter [Hrsg.]: Spaventa, Bertrando: [Sammlung]
Bd. 1: Zwei Antrittsvorlesungen und Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in Italien und in Europa, und Entwurf einer Geschichte der Logik/
aus dem Italienischen übersetzt und
hrsg. von Michael Walter Hebeisen. – 2018
ISBN 978-3-7460-6185-6
Titel der Originalausgaben:
Carattere e sviluppo della filosofia italiana dal secolo XVI sino al nostro tempo – Prolusione alle lezioni di storia della filosofia nell’Università di Bologna, in: Opere (Classici della filosofia, Bd. 12), hrsg. von Giovanni Gentile. Sansoni, Firenze, 1972, Bd. 1, S. 295ff.;
La filosofia italiana nelle sue relazioni con la filosofia europea, in: Opere (Classici della filosofia, Bd. 12), hrsg. von Giovanni Gentile. Sansoni, Firenze, 1972, Bd. 2, S. 419ff.
"Die ‚Antrittsvorlesung‘ handelt ‚Vom Nationalcharakter auf dem Gebiet der Philo-sophie‘. Sind denn nach dem Ende des Mittelalters in der Neuzeit, in der Moderne ebensoviele nationale
Philosophien möglich geworden, wie es Völker und Nationen in Europa gibt? Oder verhält es sich vielmehr so, dass was man in der Moderne als die Nationalcharaktere der Philosophien bezeichnet,
nichts anderes als besondere Momente innerhalb der einheitlichen geistesgeschichtlichen Entwicklung der modernen Philo-sophie bei den verschiedenen europäischen Nationen ausmachen? Lässt sich
beispiels-weise behaupten, dass es eine italienische Philosophie gebe, die vom französischen, englischen oder deutschen philosophischen Denken wesentlich verschieden sei, gleich-wie wenn man
sagt, dass es in der Antike eine griechische Philosophie gegeben habe, die von der indischen essentiell verschieden ausgefallen sei? Oder allgemeiner gefasst, kann und soll sich denn der einer
Nation eigene Erfindungsreichtum, das Nationalgenie, wie es sich auch auf den Gebieten der Sprache, der Literatur und in den Künsten klar und deutlich widerspiegelt und generell in den Sitten und
Gebräuchen wiedererkennen lässt, heutzutage in Europa auch in der Ausprägung des Geisteslebens ausmachen, die man als Philosophie versteht? Und wenn dem so sein sollte, handelt es sich dabei denn
um mehr als eine kulturelle, literarische oder künstlerische Ausdifferenzierung und Charak-teristik, und recht eigentlich um ein universell gültiges Wissen um die Dinge dieser Welt oder um ein
allgemeinverbindliches Denken der Wirklichkeit des Geistes, im Sinn einer Problemanlage, einer Orientierung, und einer Problemlösung".
"Und gesetzt den Fall, dass es eine charakteristisch italienische Philosophie gegeben hat, oder noch immer gibt, die sich wesentlich vom philosophischen Denken anderer Natio-nen unterscheidet,
oder mit dem Geistesleben anderer Nationen im Gegensatz steht, worin besteht denn dieses Proprium der Philosophie in Italien und worin lassen sich deren Eigenheiten und Besonderheiten denn
ausmachen? Es ist allgemein bekannt, dass es in Italien durchwegs zu wenig oder garnichts an Gedankenfreiheit gegeben hat, dass es den Vertretern der Philosophie teuer zu stehen gekommen ist,
wenn sie sich solche Freiheiten herausgenommen haben. Wo steht denn eigentlich die italienische Philoso-phie geschrieben, in den Büchern der Opfer der Verfolgung oder in den Schriften der diese
verfolgenden Täter? Die schwierigste und problematischste Aufgabe besteht für die Italiener darin – und ohne diese Frage beantwortet zu haben, kann man garnicht erst ans Werk gehen und
tatsächlich Fortschritte erzielen –, auszumachen und anzuerkennen, worin denn das typisch italienische Denken recht eigentlich besteht. Und bis diese Pflichtaufgabe nicht erledigt ist – und die
Antworten auf die unangenehme Frage zu stellen, ist nicht ganz so leicht fallen könnte – werden die allzu lauten nationalistischen Anmassungen in allen Angelegenheiten nur dazu führen, den
gesunden Sinn zu trüben und die Gemüter zu erregen, nicht jedoch auf dem Gebiet der Wissenschaften und der Philosophie irgendetwas Ernstzunehmendes und Gewissenhaftes hervorzubringen".