Bd. 7,3: Entstehung und Entwicklung der modernen Philosophie in Italien - Die Neu-Kantianer und die Hegelianer

 

Erscheint im April 2015 (in zwei Teilbänden)

Titelei, Inhaltsverzeichnis, Vorwort
Neokantiani e Hegeliani I - Titel, Vorwo
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Gentile, Giovanni:

Ausgewählte Werke in deutscher Übersetzung / Giovanni Gentile. – Biel/Bienne:

Schweizerischer Wissenschafts- und Universitätsverlag

NE: Hebeisen, Michael Walter [Hrsg.]: Gentile, Giovanni: [Sammlung]

Bd. 7,3: Entstehung und Entwicklung der modernen Philosophie
in Italien –
Die Neu-Kantianer und Hegelianer (erster Teil) /

aus dem Italienischen übersetzt und
hrsg. von Michael Walter Hebeisen. – 2015

ISBN 978-3-7347-4831-8

Titel der Originalausgabe:

Le origini della filosofia contemporanea in Italia – I Neokantiani e gli Hegeliani [parte prima], in: Opere complete, Bd. XXXIII. Sansoni, Firenze 1957.

"Aber was für den Positivismus eine These, eine innerhalb eines philosophischen Systems begrün-dete Behauptung, mithin ein konzeptuell-begriffliche Vorstellung der Philosophie darstellte, wird für den Neu-Kantianismus zur Angelegenheit eines Bekenntnisses, zu einer Anerkennung der positivistisch missverstandenen Wahrheiten; und weil die positivistische Philosophie insgesamt Anstoss nahm am unbestimmten Sinn und Geist, und am indifferenten Bedeutungsgehalt, der dem Neu-Kantischen Kritizismus zueigen war, und weil es aufgrund der Reduktion des Apriorischen auf ein Empirisches ein leichtes war, auszumachen, dass sich alles Übrige unerbittlich daraus ergeben möchte, nahm die Annahme dieser These die merkwürdige Gestalt eines Rückfalls in die Erbsünde an, nur um gegen das Böse und Schlechte keinen Widerstand leisten zu müssen [...]".
"Bekanntlich hat diese negative Grundhaltung die Form des sogenannten Kritizismus angenommen, im Gegensatz zum konstruktiven Dogmatismus der Metaphysik jeder Provenienz. Dabei ist jedoch der Neu-Kantische Kritizismus nicht mit dem Kantischen Kritizismus, mit der kritischen Philoso-phie von Immanuel Kant selber zu verwechseln. Denn dieser besteht nicht vornehmlich in einer negativen Kritik, denn es kommt nicht nur auf die „Kritik der reinen Vernunft“ an, sondern genauso auf die „Kritik der praktischen Vernunft“, sowie auf die „Kritik der Urteilskraft“, welche letzten beiden Werke den Schlüssel für das erstgenannte Werk liefern, indem sie dieses miteinbeziehen, sodass der Kritizismus Kants insgesamt letztlich nicht auf eine negative Kritik an der Philosophie überhaupt hinausläuft, die ohne Erfahrungsbezug auskommen, und sich deshalb im unentrinn-baren Labyrinth der Antinomien verirren würde, sondern in eine konzeptuelle Vorstellung von der Werthaftigkeit alles Geistigen und von der Freiheitlichkeit des Geisteslebens mündet, und zwar dergestalt, dass die lebenstüchtigen und wahrhaft bedeutsamen Teile des philosophischen Systems Kant in der ästhetischen Urteilskraft und in der transzendentalen Analytik zu suchen sind, die auf die erste Kritik der reinen Vernunft zurückzubeziehen sind. Der negative Kritizismus des Neu-Kantianismus dagegen dreht sich letzten Endes um die Dialektik und um ihre ausschliesslich nega-tiven Konklusionen, und begründet deshalb nichts, sondern stellt lediglich infrage; so aber gelingt es ihm nicht, in den lebensnahen Sinn der Wirklichkeit des Geistes und des Denkens Eingang zu finden, welches erfahrungsweltliche Verständnis des Geistigen die philosophische Theoriebildung Kants anleitet, dies sogar in der ersten seiner Kritiken, sondern löst sich vielmehr vom Geistesleben ab, um sich in die sinnliche Erfahrung zurückzuziehen und auf die sinnlichen Empfindungen zurückzubeziehen, die in ihrer abstrakten Objektivität betrachtet und als Inhalt des Geistes, des Denkens bedacht werden. Die Begriffe des Werts, der Freiheit, des Zwecks, der Kategorie, des transzendentalen Subjekts, sowie des immanenten konkreten Geistes, alles Begriffe, die Dreh- und Angelpunkte des ursprünglichen Kritizismus, der kritischen Philosophie Kants ausmachen, werden vom Neu-Kantischen Kritizismus samt und sonders verkannt; dadurch geht der kritische Geist des Kantianismus dem Neu-Kantianismus gesamthaft ab, weil dieser den logischen Aufbau, die logische Struktur der älteren, früheren Metaphysik und des jüngeren Positivismus zurückweist, nicht jedoch eigentlich einer Kritik unterzieht; damit geht ihm aber die kritische Überlegenheit ab, und er fällt vom hochstehenden Niveau herab, worauf Kant die philosophische Reflexion als eine Erkenntnis-kritik erhoben hat, die den Wissenschaften übergeordnet ist, um diese mit ihrem Geltungsanspruch in Anspruch zu nehmen, dies mit dem Ergebnis, dass er der philosophischen Erkenntnis schliesslich keinen höheren Grad an Vollkommenheit zuerkennt, als dem Wissen, wie es von den einzelnen Wissenschaften erlangt wird, welche Phänomene beschreiben und erklären, sodass er am Ende nicht mehr angeben kann, welche Stellung er unter all den Wissenschaften, beziehungsweise nebst den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen einzunehmen gedenkt."

Giovanni Gentile